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Anders denken

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Mangelnden Enthusiasmus kann man der Occupy-Bewegung wirklich nicht vorwerfen. Es war ein einfaches Rezept nötig, dem Publikum der gestrigen Podiumsdiskussion Anders denken – Visionen für ein neues Wirtschaftssystem Begeisterung zu entlocken. Jede Kritik am herrschenden kapitalistischen System und jede Pointe gegen die sogenannten “1%” resultierte in johlendem Applaus. Etwas mehr Differenziertheit schadete nicht, die akademische Wortwahl machte es den Zuhörerinnen und Zuhörern aber auch nicht einfach.

Aber von vorn. Die Bewegung OccupyZürich lud gestern zur Podiumsdiskussion mit den folgenden Teilnehmern:

Moderiert wurde das Gespräch von Daniel Binswanger, Redaktor beim Tages-Anzeiger. Dieser Blog-Post hier dient hauptsächlich zur Reinschrift meiner Notizen, ich bin kein Experte in Wirtschaftsfragen.

Im Einstiegsreferat stellte ein Aktivist der Occupy-Bewegung, dessen Namen ich leider nicht aufgeschrieben habe, die gute und wichtige Frage: Ist das herrschende System der westlichen Welt wirklich der bestmögliche Ausbau-Standard unserer Zivilisation?

Harmonie, Hörmann und Helbing

In der Vorstellungsrunde entlarvte Binswanger Prof. Hörmann als Endzeitprophet, welcher vor einigen Monaten das “Ende des Geldes innerhalb Monaten” prognostizierte. Wie eingangs beschrieben habe ich schon skeptischere Audienzen erlebt, denn Prof. Hörmann konnte mit seiner jovial-naiven Art beim Publikum gut punkten. Ein bisschen Akademiker-Bashing und “es ist doch eigentlich alles so einfach” kommt immer gut. Für mich wirkten seine Monologe jedoch eher als Amalgam unzähliger Surfstunden auf Wikipedia als eine ernsthafte theoretische Auseinandersetzung mit den Themen.

Am anderen Ende des Podiums fand sich Prof. Helbing wieder. Helbing und Hörmann – eine Antithese, wie sie kein Autor besser hinkriegte. Hörmann, der laute, nicht immer ganz korrekte, naive Showman, bei dem alles “so einfach” ist. Helbing, der korrekte, stille Physiker, welcher mit seinem Zettel redet und völlig in seinen komplexen gekoppelten Systemen verloren ist (danke an @spherushi für diese treffende Formulierung). Er betete wiederholt herunter, dass unser Wirtschaftssystem ein stark gekoppeltes System sei, welches durch die Kopplungen charakterisiert ist und weniger durch seine Komponenten. Aha! Er wies auch darauf hin, dass dringend eine intellektuelle Debatte nötig sei. Du sagst!

Prof. von Cranach

Viel interessanter hingegen empfand ich die Beiträge der anderen zwei Podiumsteilnehmer. Prof. von Cranach umriss bedacht und mit Stringenz die aktuelle Problematik und erwähnte entsprechende Gegenmassnahmen.

  • Geld mit Zins und Zinseszins führt zu einer zunehmenden Konzentration des Reichtums und einer breiteren Verschuldung – auch der Staaten. Konsequenzen sind Buchgeldschwemme, zunehmender Anlagedruck, Gefährdung der demokratischen Ordnung. Gegenmassnahmen: Steuerliche Massnahmen, Änderung des Zinses.
  • Banken schöpfen Buchgeld. Gegenmassnahmen: Vollgeld
  • Weltweite Finanztransaktionen, welche in Echtzeit getätigt werden können führen zu gigantisches Handelsvolumen. Getrieben nicht von Anlegern, wie immer gesagt wird, sondern von Spekulanten. Gegenmassnahme: Anstatt dass die Finanzwirtschaft, welche selbst keine realen Werte produziert, der Realwirtschaft dient, könnte sie als Service public geführt werden.

Um solche Reformen durchzusetzen braucht es laut von Cranach vor allem eine geistige und moralische Veränderung. Der Lebensstandard in der Schweiz ist zu hoch, wir müssen lernen, mit weniger auszukommen. Denn eine globalisierte Welt benötigt auch global ähnliche Rahmenbedingungen sonst kommt es zwangsläufig zu Umverteilungskämpfen.
Der Occupy-Bewegung rät Prof. von Cranach: Gedanken zur neuen Wirtschaftsordnung haben immer den Charakter von Utopien. Doch vielen grosse Veränderungen lagen zunächst nur utopische Vorstellung zu Grunde. Wie aber können sie erfolgreich sein?

  1. Die Minderheit muss konsistent und langfristig ihren Standpunkt vertreten.
  2. Die Bewegung muss flexibel sein, neue Ideen aufzunehmen und zu verhandeln.
  3. In der Gesellschaft herrscht eine unterschwellige Bereitschaft für die Ideen.

Prof. Ulrich

Auch Prof. Ulrich versuchte das Problem zu umreissen. Süffisant stellt er die Prämisse des Abends in Frage:  “Im Kern haben wir kein Problem mit dem Wirtschaftssystem, aus Sicht des Kapitalismus funktioniert es doch ganz gut. Hier und da eine Krise und Unstimmigkeiten, aber das kann man managen.” Als wahres Problem identifizierte er eine mangelnde Unterscheidung zwischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystematik. Vom Erfolg des kapitalistischen Modells indoktrinierte Ökonomen setzen das Marktprinzip als Allheilmittel ein und so finden wir uns wieder in einer Gesellschaft voll Sachzwängen und persönlichem Wettbewerb. Diese totale bis totalitäre Marktgesellschaft sei alternativlos, höre man im Moment oft, aber die Antwort darauf ist klar: Umkehrung der Rangordnung, eine zivilisierte Ordnung wiederherstellen. Ulrichs stellt seine eigenen Gegenmassnahmen im Sinne einer “zivilisierten Marktwirtschaft” vor:

  1. Marktwirtschaft ist nicht unser Kernproblem, sondern unsere Eigentumsordnung. Das besitzbürgerliche Credo “Eigentum macht frei” sollte für alle gelten oder dann für niemanden. Im Endeffekt haben wir heute neofeudale Verhältnisse: In welche Familie man hinein geboren wird entscheidet über die Lebenschancen. Gegenmassnahme: Eine Sozialerbschaftsregelung (Bürgerkapital).
  2. Das Geldsystem und der Finanzmarkt. Gegenmassnahme: Stärkere Regulierung.
  3. Warum brauchen wir das ständige Wirtschaftswachstum? Die Verteilung des Einkommens ist in einem zu grossen Masse an der Verteilung der immer knapperen Arbeitsplätze geknüpft. Früher war das richtig, aber in einer hochproduktiven Gesellschaft wird es zum Stolperstein. Gegenmassnahme: Ein intelligenteres und differenzierteres Einkommensverteilungsmodell.

Das Einkommen sieht Ulrich auf drei Beinen abgestützt:

  • Grundeinkommen
  • Erwerbseinkommen aus selbst- und unselbstständiger Arbeit
  • Kapitaleinkommen aller Bürger (Bürgerkapital)

Besonders gefallen hat mir seine unverblümte Kritik an den “unechten Bürgerlichen”: Die halbdirekte Demokratie der Schweiz sei längst unterhölt von der Macht des Kapitals und “diejenigen, welche weniger Sozialstaat wollen in unserem Land, die sollten, wenn sie keine Zyniker sind, für mehr Gesellschaftspolitik sein. Sie sollten eine Gesellschaft real freier Bürger inklusive der materiellen Voraussetzungen dafür anstreben. Parteien, welche bürgerlich sind, politisieren in aller Regel gegen statt für eine Ausweitung und Stärkung der Bürgergesellschaft!”

Fazit

Die Einstiegsfrage betreffend Ausbau-Standard der Zivilisation beantworteten alle Podiumsteilnehmer ähnlich. Dadurch kam leider keine wirkliche Debatte auf und das Podium war deshalb für mich auch wenig spannend, denn viel neues bot sie nicht.

Die Gretchenfrage des Abends stellte ein namenloser Volkswirtschaftsstudent: In den 30er Jahren habe man vor den gleichen Problemen gestanden und die gleichen Antworten gegeben wie heute. So komme man nie zu einer Verbesserung und er möchte gerne ein Upgrade von der Expertenrunde. Ich war froh, eine kritische Stimme zu hören, welche es vermochte den tosenden Applaus und die händewedelnden Jünger (Symptom einer zu häufige Teilnahme an Occupy-Vollversammlungen) zu übertönen. Prof. Ulrich war einverstanden, dass beängstigende Parallelen zwischen den 30er Jahren und der heutigen Problematik existieren. Wie ein anderer Kommentator wies er aber auch auf die fundamental anderen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen hin.

Prof. von Cranach monierte auch, dass z. B. vor 30 Jahren kaum 40 Leute zu solch einer Veranstaltung kamen, während heute 600 Personen zuhören. Für mich war dies die zentrale Take-Home-Message. Die Stimmung war keine deprimierte, sondern eine aufbrechende. Vielleicht ist der Tipping-Point erreicht und sind  erstmals genügend Leute motiviert, einen Systemwechsel anzupacken.

Übrigens, anders denken ist wünschenswert, dabei darf man aber nicht in die Falle tappen, sich komplett auf die “anders”-Schiene einzuschiessen. Ulrich hat mit seinen doch radikalen, aber wohlüberlegten Vorschlägen vorgemacht, wie mögliche Wege zu einer gerechteren Gesellschaft aussehen könnte. Auf meine Frage, welcher Vorschlag am ehesten beim Schweizer Souverän Erfolg hätte, wusste er keine direkte Antwort. “Seien wir realistisch, im Moment käme kein einziger unserer Reformvorschläge durch, aber es würde ernsthaft darüber diskutiert.” Und das sei eine grosse Motivation an allen Fronten weiterzukämpfen.

 

tl;dr Gleiche Argumente wie immer, aber es hat viel, viel mehr Aktivisten, was endlich den Tipping-Point bringen könnte.


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